Brief des Tages#12: Brief von Rosika Schwimmer an Lise Goldmann

Two West Eightythird St.

New York City, April 5. 1928.

Meine Liebe Lise Goldmann,

Es sind acht Monate her, dass ich Ihren Brief aus Paris über Chicago, hier erhielt. All diese Zeit war kein Tag, an dem ich Ihnen nicht gerne geantwortet hätte. Aber selbst den guten Menschen, die mir die große Geburtstag-Action gemacht hatten, konnte ich erst nach sechs Monaten denken. Mehr bauche ich Ihnen nicht zu sagen. Unsere vielgeliebte Mutter war bei Empfang Ihres Briefes schon aufgegeben und sie ist am 29-ten Oktober gestorben.

Was wir hier erlebt haben enthebt sich aller Beschreibung. Was Sie am meisten interessieren wird ist, dass die Feministen und Pazifisten mich ganz und gar ausgestoßen haben. Ich habe jahrelang versucht in die mir am nächsten stehende Arbeit hinein zu kommen, weil ich es nicht als persönliche Sache empfinde, sondern als eine fürchterliche Verschwendung an Arbeitskraft in den Sachen, in denen die Welt alle Kräfte gebrauchen sollte. Das ist nun aber eine Sache der Vergangenheit. Ich muss mich daran ergeben und mich an ein verschiedenes Leben gewöhnen. Wir können uns nicht aus Amerika herausrühren, weil man mir wegen meines Pazifismus, Franzi aber aus technischen Gründen die Staatsbürgerschaft verweigert hat. Wir haben keine Pässe und sind so an Amerika gebunden.

Sie schrieben s. Z. Sie rechneten auf Mary Windsor’s Gastfreundschaft hier. Die ist ein ebenso selbstsüchtiger Mensch, als die anderen, die sich nicht mit einem Schein von Radikalem Idealismus umgeben. Überhaupt Versprechungen von Amerikanern! Viele Tragödien kommen auf diese Rechnung. Und ich kann Sie nur warnen nichts auf Versprechungen zu geben.

Wenn wir Ihnen hätten beistehen können, würden wir alles getan haben Sie herausbringen. Aber …… Wir leben noch von der Unterstützung von Mrd. Lloyd’s.

Ihr Hauptproblem ist Ihre Kleine. Wir raten Ihnen dringendst sie in der Fellowship School, Gland, Canton Vaud, Schweiz zu unterbringen. Mrs. Lloyd’s jüngste Tochter 13 Jahre alt ist seit zwei Jahren dort. Mein Bruder schied sich von deiner Frau, die davon lief und alles was niet-und nagelfest war mitnahm, auch einen Check von 18 Dollar, den wir meinen Bruder damals als Geschenk einer Freundin für das Kind gesandt hatten. Das Kind wurde ihm zugesprochen, und unsere Amerikanischen Freunde unterbrachten es in Gland. Es ist wunderbar gut aufgehoben, und mein Bruder, der noch unter der alten Adresse III. Radetzkystrasse 31. III. 16. wohnt, kann Ihnen alle Auskunft geben.

Sie können sich nicht idealeres, und billigeres vorstellen, als diese internationale Schule, wo Kinder vieler Länder zusammen erzogen werden. Sollte dieser Brief, dessen Copie ich sicherheitshalber nach Paris sende Sie nicht in Wien erreichen, rate ich Ihnen direkt an Miss Emma Thomas, Direktorin der Schule zu schreiben, und sich auf mich zu berufen. Mlle Marguerite Gobat, diese absolut verlässliche Freundin war früher Lehrerin in der Schule, und hatte ihren kleinen Neffen dort zu Erziehung. Während der Sommerferien wird unsere kleine Nichte und ich glaube auch andere Kinder, die den Sommer über nicht nach Hause kommen, bei Frau Gobat sein.

Hier ist die Arbeitslosigkeit horrend. Acht Millionen Arbeitslose! Ihrem Fach kann man etwas erreichen, wenn man auswarten kann und ein Reißer ist. Wenn wir Ihnen Gastfreundschaft bieten könnten, würden Sie ermutigen zu kommen und bei uns zu wohnen, bis Sie Fuß gefasst haben. Wenn man aber von anderer Leute Geld lebt [sic!], wie wir, hat man kein Recht, noch auch die Möglichkeit Gäste zu beherbergen.

Eine Pariser Freunde, Mlle Marguerite Dumont, die hier geschäftliche Studien gemacht hat, ist jetzt auf ganz kurze Zeit in Paris. Franzi hat ihr Ihre Adresse gegeben und die gebeten, wenn möglich ist, mit Ihnen in Verbindung zu setzen, um Ihnen die hiesigen Verhältnisse genau zu beschreiben. Mlle Dumont ist Pazifistin und Feministin und wir haben sie außerordentlich gern. Ich verdanke ihr den Auftrag ein ungarischer Kinder-Geschichtenbuch, das der größte hiesige Verlag herausgeben wird. Leider muss ich auf das Einkommen warten, da man hier Bücher nicht fix kauft, sondern Percente nach dem Verkauf bezahlt. Das Buch kommt für den Weihnachtsmarkt heraus und wird ein Prachtband. Mlle Dumont versucht einen französischen Verleger zu finden und wird das Buch übersetzen. Ihre Adresse ist Mlle Marguerite Dumont, 13 Rue Kleber, Lavallois-Perret (Seine). Schreiben Sie ihr vielleicht um ein rendez-vous in Paris. Sie fahrt am dritten Mai mit der Majestic nach Amerika zurück. Eine ungarische Freundin reist im Juni nach Europa, berührt Paris nicht, wohl aber Wien. Wir werden ihr (Frau Walter Müller geb. Ilona Bujdossy) Ihre Wiener Adresse geben, damit sie einen Versuch macht Sie zu treffen. Sie kann Ihnen auch volle Auskunft geben. Hatte einen Schneidersalon, den sie aber aufgeben müsste, da kleine Ateliers sich nicht halten können.

Mrs. Lloyd fahrt vielleicht im Sommer hinüber ihre Tochter aus Gland abholen. In diesem Falle werden wir ihre Adresse geben [sic!]. Die einzige Möglichkeit Ihnen herauszuhelfen wäre, wenn Sie mit Mrs. Lloyd als Haushalterin herauszuhelfen und die freie Zeit benutzen würden sich in Ihrem Fach umzuschauen. Selbst Ärztinnen, die herauskommen müssen mit Hausarbeit anfangen. Wenn es mit Mrs. Lloyd gelange/hatten Sie die idealste Möglichkeit.

Wenn Sie jetzt in Wien sind, möchte ich Sie um die Gefälligkeit bitten meinem Bruder zu helfen einen Pass in Wien zu bekommen, wenn Sie nach so geschickt sind, wie früher, in solchen Sachen. Wegen des Kinder muss er einen Pass haben, da das Kind nur auf seinen Pass gehen kann. Mrs. Lloyd was in Februar 1927 persönlich in Wien, da man das arme Kind mangels eines Passes nicht herausbringen konnte.

Haben Sie gehört, dass Vilma Glücklich im August in Wien gestorben ist? Frau Szirmay’s einzige Tochter, fertige Ärztin hat Selbstmord begangen.

Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, dass sowohl Franzi wie ich mich unendlich freuen würden, wenn Sie herauskommen könnten.

Mit den besten Wünschen, und herzlichsten Grüßen von uns Beiden in alter Freundschaft,

Rosika

New York Public Library Manuscripts and Archives Division. Rosika Schwimmer Papers, Box 177.

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